Mit dem Urteil vom 29.1.2020 (11 U 14/19) hat sich das OLG Köln mit der Frage beschäftigt, ob ein Anspruch auf Akteneinsicht auch bei Vergabeverfahren im Unterschwellenbereich besteht. Dieses Urteil steht im Einklang mit dem bereits vor der Reformation der UVgO 2017 getroffenem Urteil vom 18.06.2014 (5 S 610/13) des LG Oldenburg.
Zusammenfassung
Wenn sich erst nach Einsicht in die Vergabeakte klären lässt, ob ein Vergabeverfahren zu beanstanden ist und einem Bieter möglicherweise ein Schadensersatzanspruch zusteht, dann kann der Bieter, der dafür hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte vorträgt, Einsicht in die Vergabeakte verlangen. Dies gilt unabhängig davon, ob das Vergabeverfahren im Unter- oder Oberschwellenbereich durchgeführt wurde!
Sachverhalt
Die Klägerin begehrte Einsichtnahme in die Vergabeakte zu einem Vergabeverfahren, welches nach dem 1. Abschnitt der VOB/A und damit im Unterschwellenbereich durchgeführt wurde. Die Klägerin hatte sich an dem Vergabeverfahren mit der Einreichung des preislich niedrigsten Hauptangebots beteiligt und sah nach anderweitiger Zuschlagserteilung Anhaltspunkte für Fehler im Vergabeverfahren zu ihren Lasten.
Zur Prüfung möglicher Schadensersatzansprüche gegenüber der Beklagten verlangte sie Auskunft durch Einsicht in bestimmte Unterlagen aus der Vergabeakte. Das Landgericht hatte die Klage abgewiesen.
Entscheidung des OLG Köln
Die zulässige Berufung der Klägerin hat teilweise Erfolg.
Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Auskunftsanspruch lediglich hinsichtlich der Einsicht in das Submissionsprotokoll samt Nachträgen zu. Ein Auskunftsanspruch bzw. Akteneinsichtsrecht kann sich entweder aus den Regelungen der VOB/A ergeben oder – soweit darin keine abschließende Regelung getroffen wird – gemäß § 242 BGB. Die VOB/A regelt in der für den Streitfall maßgeblichen Fassung 2012 Informationsrechte der Bewerber in §§ 14 und 19 VOB/A über den Eröffnungstermin und die Zuschlagsentscheidung. Soweit sich aus § 242 BGB ein Auskunftsanspruch ergeben kann, geht dieser – jedenfalls im vorliegenden Fall – nicht über die in der VOB/A geregelten Informationspflichten und Auskunftsrechte hinaus.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs zu § 242 BGB gebieten es Treu und Glauben, einem Anspruchsberechtigten einen Auskunftsanspruch zuzubilligen, wenn er in entschuldbarer Weise über das Bestehen oder den Umfang seines Rechts im Ungewissen ist, und wenn der Verpflichtete in der Lage ist, unschwer die zur Beseitigung dieser Ungewissheit erforderliche Auskunft zu erteilen. Ein solcher einem Schadensersatzanspruch oder der Feststellung einer Schadensersatzpflicht dem Grunde nach vorausgehender Auskunftsanspruch – wie ihn die Klägerin geltend macht – kommt nur in Betracht, wenn das Bestehen eines Schadensersatzanspruchs überhaupt grundsätzlich möglich erscheint. Ergibt sich der etwaige Schadensersatzanspruch aus einer vertraglichen Grundlage, reicht es aus, dass für den Leistungsanspruch, der mit Hilfe der begehrten Auskunft geltend gemacht werden soll, eine überwiegende Wahrscheinlichkeit besteht. Soll die begehrte Auskunft also einen vertraglichen Schadensersatzanspruch belegen, muss dieser nach allgemeiner Meinung nicht bereits dem Grunde nach feststehen; vielmehr reicht schon der begründete Verdacht einer Vertragspflichtverletzung aus.
Bei gesetzlichen Schadensersatzansprüchen wird für das Bestehen eines Auskunftsanspruchs darüber hinaus allgemein vorausgesetzt, dass der Geschädigte dartun muss, dass der Anspruch, dessen Durchsetzung die Auskunft dienen soll, dem Grunde nach besteht; es genügt grundsätzlich nicht, dass die Anspruchsvoraussetzungen wahrscheinlich gemacht werden. Voraussetzungen eines solchen Schadensersatzanspruchs stehen nicht fest und werden von der Klägerin auch nicht behauptet und unter Beweis gestellt. Die Klägerin begehrt die Auskunft gerade um beurteilen zu können, ob ein solcher Anspruch überhaupt besteht. Soweit sich aus dem durch das Vergabeverfahren begründeten Schuldverhältnis ein Auskunftsanspruch herleiten lässt, wird dieser durch die Regelungen der VOB/A, die zumindest im Wege der Selbstbindung der Beteiligten anwendbar sind, konkretisiert und begrenzt. Infolge der Durchführung eines Verfahrens zur Vergabe öffentlicher Aufträge entsteht ein Schuldverhältnis im Sinne von § 241 Abs. 2 BGB durch die Aufnahme von Vertragsverhandlungen, § 311 Abs. 2 Nr. 1 BGB. Hiernach kann dem Bieter – auch im vorliegenden Unterschwellenbereich bei Zugrundelegung der Regelungen der VOB/A – gegen den Auftraggeber ein Schadenersatzanspruch nach §§ 280 Abs. 1, 241 Abs. 2, 311 Abs. 2, 3 BGB zustehen, wenn dieser durch Missachtung von Vergabevorschriften seine Verpflichtung zur Rücksichtnahme auf die Rechte, Rechtsgüter und Interessen des Bieters schuldhaft verletzt und dem durch diese Vorschriften geschützten Unternehmen hierdurch Schaden zugefügt hat. Ein auf das positive Interesse gerichteter Schadensersatzanspruch – den die Klägerin anstrebt – steht einem Bieter nach ständiger Rechtsprechung zu, wenn der ausgeschriebene oder ein diesem wirtschaftlich gleichzusetzender Auftrag erteilt worden ist und ihm bei rechtmäßigem Verlauf des Vergabeverfahrens der Zuschlag hätte erteilt werden müssen.